Sarah hetzte durch die City von Köln. Die Fußgängerzone lichtete sich langsam. Weihnachtsbeleuchtungen erloschen, Türen schlossen für die nächsten zwei Tage, dabei musste Sarah noch unbedingt einen letzten Einkauf tätigen.
Verzweifelt rüttelte sie an der Glastür eines Kaufhauses, doch eine Verkäuferin im Inneren schüttelte den Kopf.
„Ja ja, ich weiß. Ihr habt bereits geschlossen und lasst mich auf keinen Fall mehr rein.“ Sarah strich sich eine Haarsträhne von der schweißnassen Stirn und drehte dem Kaufhaus den Rücken zu.
Da erblickte sie die kleine, unscheinbare Buchhandlung Der Bücherwurm zwischen den schillernden Schaufenstern und das Besondere war – noch immer prangerte das „Geöffnet“-Schild im Eingang.
Ohne zu zögern nahm sie die Beine in die Hände und überquerte die Straße. Im Slalom lief sie um die Passanten herum. Schon stürmte sie in den Laden.
„Entschuldigung“, sagte der junge Mann hinter der Kasse. Er rückte seine Nickelbrille zurecht und schaute auf die Uhr. „Es ist kurz nach eins. Wir haben eigentlich schon geschlossen.“
„Eigentlich.“ So leicht würde Sarah nicht aufgeben. Immerhin stand sie bereits in der Buchhandlung und nicht vor einer geschlossenen Tür. „Es tut mir auch sehr Leid, aber ich brauche unbedingt noch dieses eine Geschenk. Ich mache auch schnell, versprochen.“
Seufzend fuhr der junge Mann fort, das Geld in der Kasse zu zählen.
Sarah ballte unauffällig eine Siegerfaust. Sie lockerte den Schal und steuerte die Ecke mit den Romanen an. Welchen sollte sie nur auswählen? Sie konnte sich einfach nicht entscheiden, besonders weil sie unter Zeitdruck stand.
Da tauchte der Verkäufer auch schon neben ihr auf. „Was suchen Sie denn? Ich helfe Ihnen, damit es schneller geht.“ Er deutete auf die nostalgische Uhr über dem Schaufenster. „Ich möchte endlich in den Schoß der Familie fallen und Heiligabend beginnen lassen.“
Sarah quälte ein schlechtes Gewissen. „Ich suche nichts bestimmtes, einfach ein unterhaltsames Buch.“ Schnell fügte sie hinzu: „Auch auf mich wartet man zu Hause.“
„Herrje, für wen ist denn das Geschenk?“ Der Mann nahm die Nickelbrille von der Nase, holte ein grün kariertes Taschentuch aus der Hosentasche und polierte damit die Gläser.
„Für eine Frau in meinem Alter, so um die Dreißig.“ Sie versuchte ruhig zu antworten, fühlte sich jedoch durch sein Drängen gehetzt. Dabei sah er gar nicht schlecht aus. Neckisch standen seine schwarzen Haare zu Berge, ein Grübchen zierte seine Wange. Nur die braune Wollweste, das beige Cordhemd darunter und die braune Cordhose waren ein Griff ins …
Er steckte das Tuch in die Tasche zurück und setzte die Brille auf. „Ich bin 34. Thriller sind doch in unserer Generation beliebt.“
Etwas Spannendes an Weihnachten passt nicht zur feierlichen Atmosphäre, dachte Sarah und ließ ihren Blick über das Regal schweifen.
„Einen Liebesroman vielleicht?“
„Der würde sie zu traurig machen, weil sie Single ist.“
„Etwas Komisches dann…“ Er nahm ein Buch aus dem Schaukasten mit dem Schild Humor und hielt es ihr vor die Nase.
Unglücklich schaute sie ihn an. „Ihr ist nicht lustig zumute an den Feiertagen.“
Mürrisch stellt er es zurück. „In Gottes Namen schenken Sie ihr eine Weihnachtsgeschichte. So was kommt im Dezember immer gut an.“ Er holte tief Luft.
„Also, ich muss jetzt wirklich“, er tippte mehrmals auf seine Armbanduhr, „man vermisst mich sicher schon. Kaufen Sie eine Familiensaga. Darüber wird sich ihre Freundin…“
Er stockte, als er sah, dass ihre Augen feucht wurden. „Hab ich etwas Falsches gesagt?“
Tränen rannen Sarah Wange hinab. „Ich möchte mich entschuldigen, dass ich Sie aufgehalten habe. Es ist nur so – mich vermisst niemand.“
„Aber Sie sagten doch eben…“
„Ich habe gelogen“, unterbrach sie ihn.
Verwirrt hob er die Augenbrauen. „Und das Geschenk?“
„… ist kein Geschenk.“ Ihr war es peinlich, doch die Wahrheit musste heraus. „Ich habe nur eine Schwester und die wohnt mit ihrem Mann und den zwei Kindern in Hamburg. Sie feiern unter sich. Niemand denkt daran, mich einzuladen.“
„Oh“, entfloh es ihm.
„Meine Freunde, ja, die sind bei ihren Familien. Das Buch, das ich kaufen möchte, ist für mich selbst“, gestand Sarah und schniefte.
Er holte das Taschentuch wieder aus der Hosentasche und reichte es ihr. „… damit Sie es über die Festtage lesen können, weil Sie sehr viel Zeit für sich haben“, brachte er ihre Erklärung zu Ende.
Erstaunt blickte sie ihn an und trocknete gleichzeitig ihre Wange.
Er ging zur Kasse und hievte eine Leinentasche auf die Ladentheke. Während er Bücher herausholte und die Titel nannte, hielt er jedes Exemplar hoch. Als er alle präsentiert hatte, sagte er: „Meine Medizin gegen die Einsamkeit der Weihnachtstage.“
Vorsichtig fragte sie: „Man wartet nicht auf Sie?“
Er schob seine Nickelbrille zurück und räumte die Bücher zurück in die Tasche. „Auch ich habe gelogen; nicht besonders toll von uns beiden, gerade an Heiligabend, meine ich.“
„Nein.“
„Kennen Sie diese Anthologie schon?“ Lächelnd hielt er das Cover in ihre Richtung.
„Nein“, wiederholte sie.
„Was halten Sie davon, wenn wir einen Zimt-Tee aufbrühen, in der Leseecke neben den Christbaum Platz nehmen und uns gegenseitig Geschichten vorlesen? Die Tür bleibt geöffnet. Vielleicht finden noch andere einsame Seelen zu uns.“
Glücklich nickte Sarah. „Schließlich sind wir beide Leseratten und haben alle Zeit der Welt.“
„Zwei Bücherwürmer, die sich im Bücherwurm gefunden haben.“
„… an Heiligabend“, fügte Sarah hinzu. Wie froh sie war am Vormittag doch noch in die Kölner City gefahren zu sein! Sie hatte das Geschenk für sich selbst gefunden, dass sie sich am meisten gewünscht hatte – Weihnachten nicht mehr alleine zu sein.